- Grimmelshausen und sein »Simplicissimus«: Von der Wahnhaftigkeit der Welt
- Grimmelshausen und sein »Simplicissimus«: Von der Wahnhaftigkeit der Welt1668 erschien der bedeutendste deutsche Barockroman: Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens »Abentheurlicher Simplicissimus Teutsch«. Gleich im nächsten Jahr folgte eine »Continuatio«, eine Fortsetzung, die dem Werk als sechstes Buch angehängt wurde. Mit einer ganzen Schar von weiteren »Simplicianischen Schriften« beutete Grimmelshausen den Stoff- und Figurenkreis des Romans aus. Die wichtigsten dieser Sprossdichtungen sind: »Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche«, »Der seltzame Springinsfeld«, »Das wunderbarliche Vogel-Nest«. Das schriftstellerische Werk umfasste zudem theoretische Traktate, vier höfische Idealromane, Kalendergeschichten und Anekdotenbücher. Seinen Namen versteckte Grimmelshausen hinter anagrammatischen Pseudonymen, die erst 1837 entziffert werden konnten.Der Autor kam aus kleinen Verhältnissen und schlug sich mühsam durch. 1621 oder 1622 in Gelnhausen geboren, geriet er in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, der ihm die Jugend raubte und eine Ausbildung verwehrte. Er war Trossjunge, Pferdeknecht, Musketier, Dragoner, schließlich brachte er es zum Regimentsschreiber. Nach dem Krieg folgten unsichere Jahre als Verwalter, gelegentlich auch als Gastwirt. 1667 erhielt er das Amt eines Schultheißen in Renchen, das er bis zu seinem Tode 1676 ausübte. Erst 1666 begann die einsame, rätselhafte Autorschaft dieses Mannes. Der vom Krieg aus der Bahn geworfene Außenseiter stand sowohl der oberrheinischen Adelswelt wie dem akademischen Bürgertum fern. Keine Sprach- oder Dichtergesellschaft nahm ihn in ihre Reihen auf. Beziehungen zu zeitgenössischen Literaten scheint es nicht gegeben zu haben. Ein zeitgenössischer Brief, das einzige persönliche Zeugnis, kennzeichnet ihn so: »nur ein geringer Dorfschultes, aber ein Dauß Eß, u. homo Satyricus in folio« - ein Teufelskerl und Satiriker von großem Format. Ein abgeschiedener, einfältiger Dorfpoet war Grimmelshausen jedenfalls nicht. Dagegen sprechen schon der erstaunliche Bildungstand und die reiche Literaturkenntnis, die seine Schriften verraten - wie immer er auch dazu gekommen sein mag.Eine unerhörte Weltfülle ist in den »Simplicissimus Teutsch« eingegangen. Die Geschichte des Simplicius, des »Einfältigen«, von ihm selbst erzählt, führt ein atemberaubendes Auf und Ab vor, durchläuft alle Gesellschaftsschichten, durchmisst weiteste geographische Räume. Der zehnjährige Knabe flieht vor Soldaten, die den väterlichen Bauernhof im Spessart überfallen, zu einem alten Eremiten, der ihn zwei Jahre in der christlichen Lehre erzieht. Dann beginnt sein Lauf durch die Welt, zunächst als Narr, der in ein Kalbsfell gesteckt wird, als Reiterjunge dann, als »Jäger von Soest« endlich, reich und berühmt, bis ihn Schweden gefangen nehmen. Abenteuer in Paris schließen sich an, darunter eine amouröse Woche im »Venusberg«. In Deutschland erneut zu den Soldaten gezwungen und von seinem Freund Herzbruder befreit, begibt er sich auf Pilgerfahrt, gelangt nach Wien, kehrt in den Schwarzwald zurück und erfährt seine adelige Herkunft - der Einsiedler im Wald war sein Vater. Moskau und Korea, Japan, Macao und Konstantinopel, schließlich Rom sind weitere Stationen seines unruhigen Lebens, bis er auf seinen Schwarzwälder Bauernhof zurückkehrt, um fortab das Leben eines Einsiedlers zu führen. Das »Nosce te ipsum« (= Erkenne dich selbst) öffnet ihm, »auß sonderlicher Barmherzigkeit« Gottes, die Augen für die Unbeständigkeit und Eitelkeit der Welt: »dein Leben ist kein Leben gewesen / sondern ein Todt; deine Tage ein schwerer Schatten / deine Jahr ein schwerer Traum / deine Wollüst schwere Sünden / deine Jugend eine Phantasey / und deine Wolfahrt ein Alchimisten Schatz / der zum Schornstein hinauß fährt«. Das sechste Buch, die »Continuatio«, nimmt das Motiv der Weltreise noch einmal auf und lässt den Helden auf einer Insel nahe Sankt Helena stranden, wo er endlich, wieder als Eremit, zur Ruhe kommt. Holländische Schiffsleute finden ihn und sein Buch, das er, »in einer Insul gleichsamb mitten im Meer allein wohnhafftig / wegen Mangel Papiers auß Palmblättern gemacht und seinen gantzen Lebens-Lauff darinn beschriben«.Was ist das für ein Buch? Sicher kein Entwicklungs- oder Bildungsroman - dazu fehlt es ihm an fortschreitender Folge und am Begriff einer autonomen Person, den erst das 18. Jahrhundert entdeckte. Aber es ist auch kein willkürlich verbundenes Sammelsurium novellistischen Erzählens - dafür sind die moralischen und theologischen Leitlinien zu deutlich ausgeprägt, wie schon die kreisförmige Komposition erkennen lässt, die mit christlich-asketischem Einsiedlertum beginnt und darin auch endet. Gibt es einen Generalschlüssel für die Anlage des Romans? Man hat es mit ausgetüftelten Zahlenkompositionen versucht, mit dem traditionellen Lastersystem, mit dem astrologischen Schema der sieben Planeten, um dem allegorischen Hintersinn, der geheimen Ordnung von Grimmelshausens Realismus auf die Spur zu kommen.Unverkennbar aber steht das Gattungsmuster des Picaro- oder Schelmenromans spanischer Herkunft Pate. Grimmelshausen kannte es aus Übersetzungen, so den »Lazarillo de Tormes« und Mateo Alemáns »Guzmán de Alfarache«, den der Übersetzer Aegidius Albertinus im Geist der Gegenreformation bearbeitet und ergänzt hatte. Die Figur des »Pícaro« (= Schelm), das Erzählen aus der Perspektive des bekehrten Sünders, der episodenhäufende derbe Realismus - Gattungsmerkmale des Schelmenromans - kehren im »Simplicissimus« wieder, ebenso die religiöse Tendenz. Auch Grimmelshausens Roman ist eine Sünder- und Büßergeschichte, deren Held durch die Stationen einer Bekehrung geführt wird, vom Stand der Unschuld und Unwissenheit über das Narrendasein, über Verstrickung und Schuld, die Auslieferung an die wahnhafte und verkehrte Welt, bis hin zu Selbsterkenntnis und neuer Glaubensgewissheit, auf einer Stufenfolge von »Tumbheit, Narrheit, Sünde, Strafe, Buße«, so der Literarhistoriker Friedrich Gundolf.Besondere Würze erhält die Bekehrungsgeschichte freilich durch ihren satirischen Einschlag, einen Generalangriff auf die »verkehrte Welt«. Nicht von ungefähr hat Grimmelshausen diesen Topos immer wieder aufgegriffen. Schon das manieristisch-monströse Titelkupfer, eine menschlich-tierische Missgestalt, setzt das satirische Programm ins Bild. Seine Monstrosität entspricht der monströsen, chaotischen, labyrinthischen Realität, gegen welche die Satire Front macht, unersättlich im prallen Darbieten der Weltdetails, unerbittlich in ihrer Entlarvung. Normgebendes Gegenstück der Satire sind die utopischen Partien des Romans, die reformerisch-revolutionäre Vision der Jupiter-Episode, das sündenlose Reich der Sylphen in der Mummelsee-Episode, die kleine Ideal-Gesellschaft der ungarischen Wiedertäufer. Satire wie Utopie demonstrieren, dass unter dem Dach einer frommen, radikalen Absage an die Wahnhaftigkeit der Welt durchaus auch gesellschaftskritische Züge Platz finden.Die produktiven Nachwirkungen Grimmelshausens und seines »Simplicissimus« in Literatur, Musik und bildender Kunst reichen bis in die Gegenwart. Das bekannteste Beispiel ist Bertolt Brechts Rückgriff auf die »Landstörtzerin Courasche« in »Mutter Courage und ihre Kinder«. Eine schöne Huldigung an. Christoffel Gelnhausen (Grimmelshausen) findet sich in Günter Grass' Erzählung »Das Treffen in Telgte«. Kein Wunder, hatte doch Grass selbst mit der »Blechtrommel« das Vorbild Grimmelshausens beschworen und einen modernen Picaroroman geschrieben.Prof. Dr. Hans-Jürgen SchingsDeutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
Universal-Lexikon. 2012.